Publikationen von Rainer Bölling




Arbeitszeitverkürzung: Lehrer ausgenommen

Aus: Erziehung und Wissenschaft, Heft 8/79, S. 16 f.

Wie sähe wohl die Reaktion der Öffentlichkeit aus, wenn etwa die Pflichtstundenzahl für Lehrer der Sekundarstufe II von derzeit 23 oder 24 Stunden auf 18 festgesetzt würde? Sicher erhielte das Gerede vom „Halbtagsjob“ weiteren Auftrieb. Wohl niemand aber käme auf den Gedanken, dass es Ähnliches schon einmal gab. Und doch: Die bayerische Schulordnung vom 10. Oktober 1824 sah für Lehrer der oberen Gymnasialklassen 18 Pflichtstunden vor.

Dabei wurde das Lehramt keineswegs als Teilzeitberuf angesehen, wie aus dem gleichzeitig erlassenen Verbot des Privatunterrichts geschlossen werden kann[1]. Nach dieser überraschenden Feststellung darf man interessante Aufschlüsse erwarten, wenn man die Entwicklung der Lehrerarbeitszeit seit dem 19. Jahrhundert untersucht. Das soll hier vor allem am Beispiel Preußens geschehen, wo früher fast zwei Drittel der Bevölkerung des Deutschen Reiches wohnten.

Auf Belastung „billig Rücksicht nehmen“

Für den Bereich der Volksschule erging am 6. August 1873 ein Ministerialerlass, der als Rahmenbestimmung über das Ende des Kaiserreichs hinaus Geltung behielt und folgendes besagte: „Dem Antrage auf eine allgemeine Festsetzung der wöchentlichen Stundenzahl, welche zu erteilen ein Lehrer verpflichtet sein soll, kann keine Folge gegeben werden. Wenn auch 30‑32 bei einklassigen und Halbtagsschulen die Regel bilden werden, so kann dies doch nicht ohne weiteres auf alle Schulen Anwendung finden. Abgesehen davon, dass zuweilen nach Vokation oder Herkommen eine geringere Stundenzahl feststeht, wird bei den mehrklassigen Schulen und namentlich bei denjenigen Lehrern, welche in den Oberklassen gehobener Stadtschulen unterrichten, schwierigere Lehrgegenstände zu behandeln bzw. die Korrekturen schriftlicher Arbeiten zu besorgen haben, hierauf billige Rücksicht zu nehmen sein[2].“

Zwischen 30 und 32 Stunden hatten also im wesentlichen die Lehrer der einklassigen Dorfschulen zu erteilen, die 1882 ein Drittel, 1911 aber nur noch 11,9 Prozent der preußischen Volksschullehrer ausmachten. An den sog. Halbtagsschulen mit nur einem Lehrer, die durch Teilung einklassiger Schulen gebildet werden sollten, wenn die damals als „normal“ geltende Klassenfrequenz von 80 Schülern überschritten wurde, unterrichteten nur zwischen fünf und neun Prozent aller Volksschullehrer[3]. Die meisten von ihnen waren an mehrklassigen Schulen tätig, die sich hauptsächlich in den Städten befanden. Dort gab es aus den im Erlas genannten Gründen sowie für ältere Lehrer Stunden­entlastungen, deren Umfang von Ort zu Ort verschieden war. Daher lässt sich die durchschnittlich tatsächlich erteilte Stundenzahl nicht ermitteln, doch lag sie sicher unter 30.

Wie groß die Unterschiede sein konnten, geht aus einer Angabe für die etwas besser gestellten Mittelschullehrer hervor, deren Pflichtstundenzahl am Ende des Kaiserreichs zwischen 22 und 30 betrug[4]. Die Lehrer der höheren Schulen, die früher in Preußen „Oberlehrer“ hießen, hatten nach einer Verfügung von 1863 maximal 20-22 bzw. ‑ sofern sie noch keine etatmäßige Oberlehrerstelle inne­hatten – 22-24 Stunden zu unterrichten[5]. 1892 aber wurde anlässlich einer Gehaltserhöhung die Maximalstundenzahl von 24 zur Pflichtstundenzahl erklärt, die sich für Oberlehrer mit längerer Dienstzeit um zwei Stunden ermäßigte[6].

Darüber hinaus gab es im Einzelfall Entlastungen aufgrund von „Alter und Kränklichkeit einzelner Lehrer, Überfüllung der betreffenden Klassen, Belastung mit verschiedenen Korrekturen, Vermehrung derselben durch die größere Zahl von Schülern, Heranziehung zu besonderen Dienstleistungen im Interesse der Schule“ u. a.[7]. Gegen die Erhöhung der Pflichtstundenzahl konnten die Betroffenen knapp ein Jahrzehnt später statistische Untersuchungen ins Feld führen, aus denen hervorging, dass die Oberlehrer seitdem im Durchschnitt acht Monate früher aus dem Dienst schieden[8]. Dieses Ergebnis bewog die preußische Unterrichtsverwaltung im Jahre 1901, die Ermäßigung auf 22 Pflichtstunden bereits nach zwölf Dienstjahren eintreten zu lassen und Oberlehrer mit mindestens 24 Dienstjahren um weitere zwei Stunden zu entlasten[9]. Bei dieser Regelung blieb es bis zum Ersten Weltkrieg. Lediglich die Dauer der Unterrichtsstunde wurde 1911 einheitlich auf 45 Minuten festgesetzt, doch hatte sich diese „Kurzstunde“ weithin schon früher eingebürgert[10]. In den anderen Bundesstaaten lag die Pflichtstunden­zahl der Oberlehrer teilweise etwas niedriger als in Preußen, nirgends betrug sie mehr als 24[11].

Arbeitszeitverkürzung: Nicht für Lehrer

Die Arbeitszeit der Lehrer von damals mit derjenigen anderer Arbeitnehmer zu vergleichen, bereitet im Prinzip die gleichen Schwierigkeiten wie heute. Allerdings steht fest, dass bis 1914 die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Arbeitnehmer in der Industrie von durchschnittlich 72 Stunden an sechs Tagen auf 57 Stunden sank, wogegen die Arbeitszeit der Lehrer, wie wir sahen, keine Verkürzung erfuhr[12].

Die Novemberrevolution von 1918 brachte dann die Verwirklichung einer zentralen gewerkschaftlichen Forderung: die Einführung der 48-Stunden-Woche. Von dieser allgemeinen Arbeitszeitverkürzung blieben aber die Lehrer wiederum ausgenommen. Zu Beginn der zwanziger Jahre galten für Volksschullehrer in den meisten Ländern weiterhin 30 Pflichtstunden als Regel, von der es im einzelnen Abweichungen nach unten gab; nur Bremen, Hamburg, Mecklenburg und Thüringen begnügten sich allgemein mit 28 Pflichtstunden[13].

Die Berufsverbände der Volksschullehrer schrieben die Forderung nach genereller Arbeitszeit­verkürzung auch gar nicht auf ihre Fahnen ‑ vielleicht deshalb, weil sie ihnen nach der 1920 erreichten Einreihung der Volksschullehrer in den gehobenen mittleren Dienst und angesichts des Kampfes um die Akademisierung der Lehrerbildung nicht opportun erschien[14]. Der Philologenverband dagegen verlangte 1919, die Pflichtstundenzahl der Gymnasiallehrer im ganzen Reich auf 20 herabzusetzen und sie nach Vollendung des 40. und 50. Lebensjahres jeweils um weitere zwei Stunden zu senken[15]. Dies geschah nicht zuletzt aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, da eine wachsende Zahl von ausgebildeten Lehrern ohne Anstellung blieb.

Am Rückschritt beteiligt

Doch die tatsächliche Entwicklung ging in eine andere Richtung. Als im Inflationsjahr 1923 die wöchentliche Arbeitszeit in der Industrie wieder auf 54 Stunden und mehr stieg, da wurden auch die Lehrer am sozialpolitischen Rückschritt beteiligt. Preußen setzte 1924 die Pflichtstundenzahl der Gymnasiallehrer, die sich mittlerweile Studienräte nennen durften, auf 25 herauf; erst nach vollendetem 45. Lebensjahr verminderte sie sich auf 23, nach weiteren zehn Jahren auf 20. Für den Bereich der Volksschule bestimmte ein Erlas: „Das regelmäßige Arbeitsmaß der Lehrer und Lehrerinnen an mehrklassigen Schulen ist derart zu erhöhen, dass die Unterrichtszeit für die Lehrer und Lehrerinnen voll ausgenutzt wird, soweit ihre Leistungsfähigkeit es zulässt. Das würde für Lehrer eine regelmäßige wöchentliche Stundenzahl bis 30 ... bedeuten[16].“

Diese Maßnahmen in Verbindung mit dem gleichzeitigen Personalabbau ließen die Zahl der arbeitslosen Lehrer weiter in die Höhe schnellen. Sie sollten ursprünglich nur „bis auf weiteres mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Not des Staates und der Gemeinden“ gelten, blieben aber auch in den folgenden Jahren relativer wirtschaftlicher Prosperität in Kraft. Erst als nach 1929 die Weltwirtschaftskrise große Löcher in die öffentlichen Kassen riss, erinnerten sieh viele Politiker wieder der Arbeitszeit der Lehrer. So setzten einige Länder die Pflichtstundenzahl der Volksschullehrer um 2 Stunden herauf. In Preußen allerdings wurde 1931 nur die Bestimmung von 1924 erneut bekräftigt, da Kultusminister Grimme erkannte, dass bei einer „nochmaligen Pflichtstundenzahlerhöhung der Begriff der Pflicht nur noch äußerlich wahrgenommen und nicht mehr mit dem lebendigen Inhalt einer sich der Jugend hingebenden Persönlichkeit erfüllt werden könne[17].“

Nur das Stundendeputat der Rektoren wurde von zwölf auf mindestens 16 erhöht. Auch die Direktoren der höheren Schulen mussten nun zwei Stunden mehr erteilen, während die 25 Pflichtstunden der Studienräte nicht noch einmal heraufgesetzt wurden. Dafür gab es aber nur noch eine einzige Ermäßigung um zwei Stunden bei Erreichung des 50. Lebensjahres[18]. Alles in allem stieg somit die durchschnittliche Arbeitszeit der Lehrer wieder einmal an, während gleichzeitig Tausende junger Lehrer arbeitslos waren. Wenn diese sich in überdurchschnittlichem Maße der nationalsozialistischen Protest­bewegung anschlossen[19], so war dies wohl kein Zufall.

Soll Ungerechtigkeit fortgeschrieben werden?

Dass die Arbeitszeit der Lehrer im Dritten Reich nicht unter das in der Weimarer Republik erreichte Maß herabgesetzt wurde, liegt angesichts der arbeitnehmerfeindlichen Politik der Nationalsozialisten auf der Hand. In den ersten Jahren der Bundesrepublik galt dann zunächst in der privaten Wirtschaft wie im öffentlichen Dienst wieder die 48-Stunden-Woche, die bis zum Beginn der 1970er Jahre auf 40 Stunden verkürzt wurde. Gegenüber der 72-Stunden-Woche von 1870 sind das 44 Prozent weniger. Und die Lehrer?

An ihnen ging diese Entwicklung auch jetzt nahezu spurlos vorbei. Zumeist wurde nur die in Inflation und Weltwirtschaftskrise vorgenommene Erhöhung der Stundenzahl rückgängig gemacht[20]. So müssen Grund- und Hauptschullehrer auch heute in der Regel noch 28 Stunden unterrichten, also fast soviel wie zu Kaisers Zeiten, und für die Gymnasiallehrer mit 23 bzw. 24 Pflichtstunden hat sich auch kaum etwas geändert. Als Begründung für den Ausschluss der Lehrer von der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung musste bis vor einiger Zeit der Lehrermangel herhalten. Mittlerweile aber stehen, wie schon in der Weimarer Republik, Tausende arbeitsloser Pädagogen vor den Schultoren, und ihre Zahl steigt. Wenn die verantwortlichen Politiker nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen wollen, dann können sie sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass in dieser Situation mit der längst überfälligen Verkürzung der Lehrerarbeitszeit begonnen werden muss.

Anmerkungen

[1] Eugen Brand, Die Entwicklung des Gymnasiallehrerstandes in Bayern von 1773‑1904, München 1904, S. 453 f.
[2] K. O. Beetz, Der Führer im Lehramte. Ein Ratgeber für Seminaristen, Lehrer und Schulaufsichtsbeamte, 8. Aufl., Osterwieck 1924, S. 85.
[3]
Die Zahlenangaben nach: Claudia Huerkamp, Die preußischen Volkschullehrer 1848‑1918, Staatsexamens­arbeit Münster 1976, S. 34
[4]
F. Kirchert, Der Mittelschullehrer, in: Paul Trautwein u. a., Der Philologe, Berlin 1919, S. 120.
[5]
Paul Mellmann, Geschichte des Deutschen Phi1ologen‑Verhandes bis zum Weltkrieg, Leipzig 1929, S. 17
[6]
Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, Jg. 1893, S. 232 f. (Erlaß vom 31. 12. 1892).
[7]
Ebd., S. 489 (Erlaß vom 3. 5. 1893).
[8]
 Mellmann, S. 31.
[9]
Adolf Beier (Hg.), Die höheren Schulen in Preußen und ihre Lehrer, 3. Aufl., Halle 1909, S. 1073 (Erlaß vom 12. 10. 1901)
[10]
Zentralblatt 1911, S. 528 f. (Erlas vom 22. 8. 1911)
[11]
Hans Morsch, Das höhere Lehramt in Deutschland und Österreich, 2. Aufl., Leipzig 1910, S. 423 ff.
[12]
Gerhard A. Ritter/Jürgen Kocka (Hg.), Deutsche Sozialgeschichte. Dokumente und Skizzen, Bd. II: 1870-1914, München 1974, S. 140.
[13]
Beetz., S. 86 f.
[14]
Siehe Rainer Bölling, Volksschullehrer und Politik. Der Deutsche Lehrerverein 1918‑1933, Göttingen 1978.
[15]
Deutsches Philologen-Blatt, Jg. 1919, S. 643.
[16]
Zentralblatt 1924, S. 100 u. 82 (Erlasse vom 12. u. 1. 3. 1924)
[17]
Umfang und Wirkungen des Volksschulabbaus. Ein Mahnruf an die Regierenden und an die Öffentlichkeit, hg. vom Deutschen Lehrerverein, o. 0. 1932, S. 14 f.
[18]
Zentralblatt 1931, S. 286, 264 u. 84 f. (Erlasse vom 12. 9., 14. 9. u. 26. 2. 1931)
[19]
Vgl. Bölling, S. 205 ff.
[20]
Vgl. z. B. für die Berufsschullehrer Hamburgs E&W 8/78, S. 5 f.